HISTORIE
100 Jahre leistbares Wohnen
Bis 1918 steigt die Einwohner*innenzahl in Wien auf mehr als zwei Millionen an. Ein Großteil der Bevölkerung lebt auf engstem Raum in ärmlichsten Verhältnissen. Die nur durch ein Gangfenster belichteten und belüfteten Bassenawohnungen (gemeint sind Zimmer-Küche-Wohnungen mit einer Wasserentnahmestelle und Toilette am Gang) sind meist überbelegt und werden zusätzlich noch von rund 170.000 Bettgeher*innen und Untermieter*innen genutzt.
Die extrem dichte Belegung und die unhygienischen Zustände begünstigen Tuberkulose, die als Wiener Krankheit bekannt ist und als typische Volksseuche der Arbeiterschaft gilt.
In Wien herrscht zum Ende des Ersten Weltkriegs trotz abnehmender Bevölkerungszahl weiterhin akuter Wohnungsmangel. In die Bausubstanz wird während der Kriegsjahre kaum investiert. Besonders Frauen und Kinder der eingerückten Soldaten sind mit Delogierungen konfrontiert.
Um das soziale Klima zu entspannen, die Arbeiterschaft ruhig zu halten und die Familien der Soldaten zu schützen, erlässt die konservative Regierung 1917 eine Mieterschutzverordnung, die einen Mietzinsstopp („Friedenszins“) und den Schutz vor willkürlichen Kündigungen beinhaltet. Infolge der niedrigen Mietzinse werden keine Untermieter*innen mehr aufgenommen und für die einkommensschwächsten Schichten ist es noch schwieriger, Wohnunterkunft zu finden. Aufgrund der bis 1922 andauernden Hyperinflation kommt trotz Wohnungsmangels die private Bautätigkeit zum Erliegen.
Nach den Gemeinderatswahlen 1919 übernimmt die Sozialdemokratische Arbeiterpartei die Wiener Stadtverwaltung. Zu den rechtlichen Voraussetzungen für einen Wandel im Wohnbau zählt, dass Wien ab 1. Jänner 1922 den Status eines eigenen Bundeslands und damit Steuerhoheit erlangt.
Weitere wesentliche Voraussetzungen werden mit dem Erwerb geeigneter Baugründe und der Sicherstellung der Baufinanzierung geschaffen. Einen entscheidenden Impuls für den sozialen Wohnbau liefert die Steuerreform durch Finanzstadtrat Hugo Breitner. Zunächst schafft er die Mietzinssteuer ab, die alle Mieten mit dem gleichen Steuersatz belastet, und führt stattdessen eine neue Mietzinssteuer ein, die nur die obersten 20 Prozent der Mieten betrifft.
Breitner entwickelt in Folge gemeinsam mit Robert Danneberg die zweckgebundene Wohnbausteuer, die 1923 beschlossen und zur wichtigsten Finanzierungsgrundlage für die städtische Bautätigkeit wird. Weitere Einnahmen ergeben sich aus den Luxusausgaben der Wohlhabenden. Sie finanzieren die Grundversorgung der breiten Bevölkerung bei gleichzeitiger Stimulierung der Wirtschaft.
1923 beschließt der Gemeinderat das erste Wiener Wohnbauprogramm. Dieses sieht die Errichtung von 25.000 Wohnungen innerhalb von fünf Jahren vor. Da aber bereits 1926 vorzeitig der Grundstein zur 25.000. Wohnung gelegt werden kann, folgt 1927 ein zweites Wohnbauprogramm für weitere 30.000 Wohnungen.
Hauptziel des Wiener kommunalen Wohnungsbaus ist es, gesunde Lebensbedingungen für Bewohner*innen zu ermöglichen – nach dem Credo „Licht, Luft und Sonne“. Dabei beträgt die Bebauungsdichte bei den neuen Gemeindebauprojekten höchstens 50 Prozent.
Jede Wohnung soll aus einer Wohnküche und einem Zimmer sowie einem Vorzimmer und einer eigenen Toilette bestehen. Alle Wohnräume müssen direkt belichtet sein; die Gangküche gehört somit der Vergangenheit an. Fast alle Wohnungen verfügen über Balkone, Erker oder Loggien. Während fließendes Wasser zur Grundausstattung jeder Wohnung zählt, fehlen wohnungseigene Badezimmer in der Zwischenkriegszeit fast gänzlich.
87.000 Wohnungen sind zerstört und rund 35.000 Menschen sind obdachlos. Im Interesse der Stadtverwaltung steht die Schaffung möglichst vieler Wohnungen.
Mit dem Bau der Per-Albin-Hansson-Siedlung West mit über 1.000 Wohnungen startet die Gemeinde Wien 1947 in Favoriten das erste Großprojekt. Als Dank für die schwedische Hilfe nach dem Krieg wird die Siedlung bei der Fertigstellung 1951 nach dem schwedischen Ministerpräsidenten Per Albin Hansson benannt.
Von Kriegsende bis 1954 können insgesamt 28.000 neue Gemeindewohnungen errichtet werden. Insgesamt beträgt die durchschnittliche Jahresbauleistung an neuen kommunalen Wohnungen zwischen 1945 und 1960 fast 4.200 Einheiten pro Jahr.
Noch vor 1960 ist der Wiederaufbau der Stadt Wien abgeschlossen und die Phase der Stadterweiterung beginnt.
Parallel zum kommunalen Wohnungsbau der Gemeinde Wien leistet seit 1945 auch der nicht-kommunale Wohnungsbau, betrieben von gemeinnützigen Genossenschaften, einen erheblichen Anteil zur gesamten Wohnungsproduktion. Diese Baugesellschaften errichten im Zeitraum zwischen 1956 und 1965 rund 25 Prozent aller neuen Wohnungen in Wien.
Im Jahr 1973 übertrifft die Zahl der von gemeinnützigen Wohnbauvereinigungen fertiggestellten Einheiten erstmals die Anzahl neuer Gemeindewohnungen. Der bis dahin letzte Gemeindebau in der Rösslergasse 15 wurde 2004 fertiggestellt. Aufgrund der hohen Nachfrage nach besonders günstigem Wohnraum beschließt die Stadt Wien 2015 den Bau weiterer 4.000 kommunaler Wohnungen. Deshalb entstehen derzeit in 13 Bezirken auf Grundstücken der Stadt Wien über 4.000 neue Gemeindewohnungen.
Obwohl im Laufe der Jahrzehnte viele neue wohnbaupolitische Ansätze entwickelt und realisiert wurden, gelten die wesentlichen Grundsätze des „Roten Wien“ noch heute: Leistbarkeit, hohe Qualität, sozialer Zusammenhalt und eine ausgewogene soziale Durchmischung.
TIMELINE
Rund 2 Mio. Menschen leiden unter Wohnungsnot, 170.000 Bettgeher*innen.
„Friedenszins“, Mietzinsstopp und 1. Mieterschutzverordnung werden veranlasst.
Ende der Monarchie und Ausrufung der Republik.
Wien wird selbstständiges Bundesland und erlangt Steuerhoheit.
„Breitner-Steuer“ – Wohnbausteuer wird eingeführt. Wiener Gemeinderat beschließt Bau von 25.000 Wohnungen.
Erster Gemeindebau (Metzleinstalerhof) bezugsfertig mit 252 Wohnungen.
Wiener Gemeinderat beschließt 2. Wohnbauprogramm mit 30.000 Wohnungen.
Fertigstellung der Wohnhausanlage Sandleiten mit 1.587 Wohnungen.
Fertigstellung des Karl-Marx-Hofes (Superblock mit einer Gesamtfassadenlänge von 1.200 Metern und 1.353 Wohnungen).
Fertigstellung der Werkbundsiedlung mit 70 eingerichteten Häusern, geschaffen in Zusammenarbeit mit mehreren Künstler*innen.
Rund 200.000 Wienerinnen und Wiener leben im Gemeindebau.
Erliegen der Bautätigkeit aufgrund des Austrofaschismus und Nationalsozialismus.
87.000 Wohnungen sind zerstört, etwa 35.000 Menschen obdachlos.
Errichtung der Per-Albin-Hansson-Siedlung West mit 1.033 Wohnungen.
Stadt Wien beschließt Schnellbauprogramm, vorwiegend mit kleinen „Duplex-Wohnungen“, die später in eine größere Wohneinheit zusammengelegt werden können.
100.000. Gemeindewohnung wird fertiggestellt.
Wohnbauförderungsgesetz tritt in Kraft.
Stadterweiterung: Im Durchschnitt werden 9.000 neue Gemeindewohnungen pro Jahr gebaut.
Baubeginn der Per-Albin-Hansson-Siedlung Ost mit mehr als 5.000 Wohnungen.
10.000. Wohnung seit Ende des 2. Weltkriegs wird fertiggestellt.
Fertigstellung der Großfeldsiedlung mit 5.533 Wohnungen.
Fertigstellung der Wohnhausanlage Am Schöpfwerk mit 990 Wohnungen.
Der 1.000. nachträgliche Aufzugseinbau in einem Gemeindebau erfolgt.
200.000. Gemeindewohnung wird fertiggestellt.
Neues Mietrechtsgesetz und Wiener Wohnbauförderung treten in Kraft.
Gründung des Bodenbereitstellungs- und Stadterneuerungsfonds. Es werden rund 10.000 Wohnungen pro Jahr saniert.
Wiener Wohnbauförderungs- und Wohnhaussanierungsgesetz tritt in Kraft. Der Eiserne Vorhang fällt – massive Zuwanderung aus östlichen Nachbarstaaten.
Neue Wohnbauoffensive wird gestartet. Stadt Wien fördert bis zu 10.000 Neubauwohnungen.
Mietrechtsnovelle 1994 tritt in Kraft.
Bauträgerwettbewerbe und Grundstücksbeirat werden eingeführt.
Wohnservice Wien wird gegründet. Förderaktion „THEWOSAN“ wird ins Leben gerufen.
Verlagerung des geförderten Wohnbaus von der Gemeinde zu gemeinnützigen Wohnbauträgern. Vorerst letzter Gemeindebau in der Rösslergasse wird fertiggestellt.
Neuer Nachbarschaftsservice wohnpartner nimmt seine Arbeit in Wiener Gemeindebauten auf. Wohnbauförderungsgesetz wird geändert – Gemeindebauten sollen so für neue Zielgruppen geöffnet und besser sozial durchmischt werden.
SMART-Wohnbauprogramm wird geschaffen.
Stadt Wien beschließt Bauprogramm „Gemeindebau NEU“; rund 4.000 Gemeindewohnungen sollen errichtet werden.
Einführung der neuen Flächenwidmungskategorie „Geförderter Wohnbau“. Erster Gemeindebau NEU (Barbara-Prammer-Hof) an Mieter*innen übergeben.
21 Gemeindebauprojekte in Planungs- und Bauphase. Fertigstellung bis 2026.
Besiedlung weiterer Gemeindebauten NEU im Stadterweiterungsgebiet Wildgarten im 12. Bezirk und am Areal des ehemaligen Gaswerks in der Leopoldau in Floridsdorf.